Es ist der 23. August 2011. Wir sind in der Waldbühne in Berlin, um das nachgeholte Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Riccardo Chailly zu sehen. Die Waldbühne sieht aus wie ein gigantisches Amphitheater. Sie ist eine Arena, auf deren einer Seite sich ein steiler Abhang befindet. An diesem Abhang befinden sich viele tausend Sitze, Bänke ohne Nummerierung. Alle Sitze laufen hangabwärts auf einen Kreis zu, an dessen Ende sich die Bühne befindet. Die Waldbühne fasst schätzungsweise mehr als 10 000 Menschen. Die Atmosphäre ist kaum zu beschreiben.
Als wir von der S-Bahn in Richtung Waldbühne laufen, befinden wir uns inmitten von tausend andere Leute, allen Alters, aller Herkunft, vieler Sprachen. Je näher man dem Eingang kommt, desto mehr sieht man Kartenverkäufer, die ihre Eintrittskarten noch verkaufen wollen. Bei den Menschenmassen, die in Richtung Waldbühne strömen, kann ich mir es gut vorstellen, dass die Karten verkauft werden können. Als wir unsere eigenen Karten ergattert haben, gehen wir durch die Kartenkontrolle. Die Kontrolleure sind allerseits sehr nette und geduldige Menschen, trotz den Menschenmassen, denen sie Karten und Taschen kontrollieren müssen. Durch die Absperrung, auf einen großen Vorplatz, von dem aus ein Weg zur Waldbühne führt. Wir folgen dem Weg und fühlen uns wie Harry Potter auf dem Weg zum Stadion der Quidditch Weltmeisterschaft. Überall Menschen, überall gute Laune, nur keine singenden Fahnen und Leprechaun, die falsches Gold auf die Besucher fallen lassen. Vor dem Abhang, der zu den Plätzen führt, hat sich ein Ring aus Ständen aufgebaut. Dort bekommt man alles, von Crêpes über Kaffee und Tee bis hin zu Erdbeerbowle und Cocktails. Wenn man sich dann dem Abhang nähert, sieht man ein riesiges Zelt am fernen Ende des Amphitheaters, angestrahlt mit blauem und weißem Licht. Hunderte Herren und Damen in feinen Anzügen erklären den Besuchern, wo und wie genau ihre Plätze zu finden sind. Wir machen uns auf den Weg auf die linke Seite, in den H Block suchen uns Plätze (es ist ja freie Platzwahl) und genießen den Ausblick, bis nach wenigen Minuten der Dirigent unter Applaus die Bühne betritt.
Als der Dirigent die Bühne betritt, dämmert es gerade. Es ist noch nicht ganz dunkel, als das Orchester der Berliner Philharmoniker die Suite für Jazz-Orchester Nr. 2 von Dimitri Schostakowitsch anstimmt. Die Suite besteht aus acht Teilen, die mich an Filmmusik erinnern. Besonders an die Filmmusik, die der Japaner Joe Hisaishi komponiert. Eine Stelle klingt sogar ein wenig so, wie die Musik der Kindersendung „Der kleine Maulwurf“. Der Beginn des Konzertes ist gelungen, das Publikum bestens eingestimmt auf die nächsten knapp zwei Stunden zeitgenössischer klassischer Musik. Für ihren hervorragend gespielten Schostakowitsch bekommen die Berliner Philharmoniker großen Applaus. Für mich ist es das schönste Stück vor der Pause.
Als nächstes hören wir Filmmusik aus der Zeit um die Hälfte des 20. Jahrhunderts. Komponist ist Nino Rota (1911-1979), das Stück heißt „La strada“, stammt aus dem Jahre 1966 und ist eine „Orchestersuite aus dem Ballett nach Federico Fellinis gleichnamigem Film von 1954“ (so das Programmheft). Obwohl sehr eindrucksvoll gespielt, reißt mich die Musik nicht so in den Bann, wie es vorher Schostakowitsch getan hat. Hätte ich die Auswahl der Musik beeinflussen können, hätte ich Riccardo Chailly wohl andere Filmmusik empfohlen. Und doch lässt die Tatsache, dass Herr Chailly und ich wohl andere Vorstellungen von guter Filmmusik haben, die Magie des Abends keineswegs schwinden. Unter der intensiven, und teilweise etwas düsteren Musik Nino Rotas wird es nun endgültig dunkel. Man sieht jetzt deutlich, wie die Bäume von mächtigen Scheinwerfern angestrahlt werden. Von Zeit zu Zeit sieht man blinkende Flugzeuge weit weg am Himmel vorüberfliegen und man wundert sich, ob die das Spektakel hier unten durch die klare Nacht erahnen können. Ab und zu flattert auch die eine oder andere Fledermaus verwirrt durch das Licht.
Dann ist Pause. Viele der Besucher bleiben – ganz untypisch für Konzerte – einfach auf ihren Plätzen sitzen, anstatt sich auf die Buden zu stürzen, wo alles angeboten wird, von chinesischen Wok-Gerichten, bis hin zu fast so exotisch klingender Erdbeerbowle.
Die Pause verklingt ohne einen Ton, kein Gong ertönt und alle, die an den Buden stehen, werden von plötzlichem Applaus überrascht, als der Dirigent wieder auf die Bühne tritt. Die zweite Hälfte erklingt ganz in italienisch. Ottorino Respighi ist der Komponist, Fontane di Roma (1915/16) und Pini di Roma (1923/24) sind seine Werke. Beide sind sehr schön gespielt. Besonders im Gedächtnis bleiben dabei die letzten Minuten von Pini di Roma. Eine ganze Weile lang spielen Bläser und Pauken die Hauptrolle, als würde Caesar persönlich mit einem Triumpfzug in Rom einmarschieren. Und so strahlt die Musik von Ottorino Respighi durch das große Amphitheater im Wald, in dem es mittlerweile vollkommene Nacht geworden ist. Nach dem Ende des Riesenspektakels, und damit auch nach dem Ende des Konzertabends, wie er auf dem Programm steht, erhebt sich allseits großer Applaus. Für Riccardo Chailly und die Berliner Philharmoniker stehen die Menschen von ihren Plätzen auf, und setzen sich auch dann nicht wieder hin, als das Orchester schon längst zur ersten Zugabe anspielt. Die ist fast so schwungvoll wie die Pini di Roma, die soeben verklungen waren. Die zweite Zugabe ist ähnlich schwungvoll, und klingt, wie alles an dem Abend nach moderner Klassik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die dritte Zugabe ist, genau wie die Waldbühne, ein Highlight, das es nur in Berlin gibt: Die Berliner Hymne, komponiert von Paul Lincke. Das ganze Publikum schreit begeistert bei den ersten Takten, und durch die ganze Waldbühne ziehen sich Pfiffe, wann immer der Refrain sich nähert („das ist die Berliner Luft Luft Luft“), Klatschen und Singen. Die Begeisterung, die sich durchs Amphitheater zieht ist greifbar. Alle tanzen, schunkeln, singen, klatschen, pfeifen und freuen sich ihres Lebens. Die Berliner Hymne ist der letzte Höhepunkt eines fantastischen Abends. Als die letzten Takte und das letzte Klatschen verhallt sind, wälzen sich die Menschenmassen von immer noch um die 10 000 Menschen aus der Waldbühne heraus. Ströme von Menschen, die die Treppen emporsteigen, aus der Absperrung um die Waldbühne strömen und sich in Richtung S-Bahn bewegen. Der Abend ist immer noch lau und angenehm, und durch die dritte Zugabe ist die Menge beschwingt und zufrieden. Und so steht an der S-Bahn ein Haufen glücklicher, zufriedener Leute, der sich langsam in die S-Bahn drängt und seiner Wege fährt – bis zum nächsten Jahr vielleicht.